Vermächtnis der friedlichen Revolution im Ringen um soziale Gerechtigkeit nutzen

Zur Aktuellen Stunde „Vom mutigen Umbruch zum Aufbruch in Freiheit – 35 Jahre friedliche Revolution“ erklärt die Vorsitzende der Linksfraktion, Jeannine Rösler:

„Der Mut der Menschen vor 35 Jahren und in den Jahren davor, ist unvergessen und beeindruckt bis heute. Neue Parteien, Organisationen und Runde Tische sind entstanden, auf Massendemonstrationen wurde ohne Furcht das Machtsystem der SED in Frage gestellt. Und bis heute ist es schier unglaublich, dass es den Menschen gelang, auf absolut friedliche Weise die Mauer zum Einsturz zu bringen. Keine Gewalt war die Devise.

Die friedliche Revolution war ein gewaltiger Umbruch, dem ein Aufbruch in eine neue Zeit folgte. Die Menschen haben echte Demokratie, freie Wahlen und die Reise- und Meinungsfreiheit gefordert. Die spätere Erkenntnis, dass Freiheit ohne soziale Gerechtigkeit wenig wert ist, sollte Maßstab sein, wenn wir über die Herausforderungen sprechen, vor denen wir heute stehen.

35 Jahre friedliche Revolution sind Anlass, um das Positive der Geschichte herauszustellen und die demokratischen Errungenschaften zu feiern. Die Geschichte der friedlichen Revolution ist jedoch unvollständig, wenn wir sie ausschließlich als Erfolgsgeschichte erinnern und erzählen. Für viele war sie ein Aufbruch in eine neue, gemeinsame und freiheitliche Zukunft und zugleich bedeutete sie für viele einen schmerzhaften und tiefgreifenden Umbruch.

Es gehört deshalb dazu, darüber zu reden, dass die Perspektiven, Interessen und Erfahrungen vieler Menschen in den ostdeutschen Bundesländern nicht gehört und nicht ernst genommen wurden. Es gab und gibt zu wenig Wertschätzung für ostdeutsche Geschichten und Lebensleistungen. Und so wurde und wird immer noch viel Vertrauen verspielt, das wir wiedergewinnen müssen.

Freiheit ist ein großes Wort, es bedeutet nicht lediglich Reise- und Meinungsfreiheit. Freiheit bedeutet auch Selbstverwirklichung, bedeutet soziale Sicherheit, Chancengleichheit, bedeutet ein gutes Leben ohne Angst vor Armut. Bis heute gibt es erhebliche Unterschiede in den Sozialstrukturen. Die Geldbeutel in Ostdeutschland sind deutlich schmaler und die Wohlstandspolster spürbar dünner. Fast 30 Prozent arbeiten im Niedriglohnsektor. Das Vermögen der Haushalte ist im Osten nur halb so hoch wie im Westen. Ostdeutsche bekommen von ihren Eltern wenig bis nichts vererbt. Zudem liegt der Anteil der Ostdeutschen an Spitzenjobs in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Justiz immer noch weit unter ihrem Bevölkerungsanteil. Solange es diese Benachteiligungen gibt, besteht die Gefahr, dass die Demokratie weiter unter Druck gerät.

Geist, Gedanken und das Vermächtnis der friedlichen Revolution ermutigen uns, nicht nachzulassen im Ringen um gleichberechtigte Teilhabe, im Ringen um soziale Gerechtigkeit, um Bildungschancen und ein würdevolles Leben für alle.“